Sichtbarkeit oder «Probleme im Stadtbild»?

In Berlin läuft seit dem 13. Oktober 2025 die Kampagne «Schau mir in die Augen, Berlin». Sie will ältere queere Menschen sichtbar machen und so Akzeptanz schaffen und vor Ausgrenzung schützen will.
Am 20. Oktober 2025 äusserte der deutsche Bundeskanzler Merz im Zusammenhang mit Migration und Rückführung «Probleme im Stadtbild» von Berlin, die es zu lösen gebe – kann zu viel Sichtbarkeit auch kontraproduktiv sein?
«Als ich jung war, konnte ich nicht offen schwul leben. Heute will ich, dass mich alle so akzeptieren, wie ich bin.»
«Ich bin jetzt 72 und stolz, offen lesbisch zu leben. Älterwerden darf nicht heissen, sich wieder verstecken zu müssen.»
«Als trans* Mensch habe ich mich verstecken müssen, habe gelitten und gekämpft, um endlich ich selbst zu sein.»
Bei allen drei Plakaten steht darunter:
«Auch im Alter wollen queere Menschen sichtbar bleiben. Im Café, im Club, in der Pflege, überall. Respekt für Vielfalt.»
Die Schwulenberatung Berlin und RuT (Rad und Tat – Offene Initiative Lesbischer Frauen e.V.) setzen sich damit ein für die rund 450'000 queeren Menschen in Berlin, von denen etwa 50'000 über 65 Jahre alt sind. Häufig haben sie keine Kinder oder Familie, die sie unterstützen und erleben immer noch Diskriminierung in Pflegeeinrichtungen, im Wohnumfeld oder in der medizinischen Versorgung. «Mit Schau mir in die Augen, Berlin zeigen wir: queere Menschen gehören selbstverständlich zum vielfältigen Stadtbild – in jedem Alter», betonen die Verantwortlichen der beiden Vereine.
Wenn Minderheiten aus der Öffentlichkeit verdrängt werden sollen, seien es Wohnungslose und Randständige am Bahnhofplatz, der «Visitenkarte» der Stadt Bern, dunkelhäutige Menschen aus dem Stadtbild Berlins oder es für queere Menschen «sicherer» ist, nicht als queer wahrgenommen zu werden, wird es gefährlich. Diktaturen fangen immer damit an, «die anderen» auszugrenzen, und bei Minderheiten geht es am besten. Sinti und Roma, jüdische Menschen, trans* oder homosexuelle Menschen, dunkelhäutige oder Menschen mit Migrationshintergrund, die sich nicht mehr trauen, auf der Strasse spanisch oder arabisch zu sprechen. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass in den USA regelrechte Hetzjagden stattfinden, und zwar längst nicht nur auf «Ausländer» sondern auch auf diejenigen, die es wagen, die Methoden der maskierten und militärisch bewaffneten ICE Agents in Frage zu stellen?
Sichtbarkeit kann schützen. Es ist leichter, Vorurteile gegen abstrakte Gruppen zu hegen – die Schwulen, die Dunkelhäutigen –, als gegen Menschen, die wir persönlich kennen: meine Nachbarn Fritz und Walter, die mir im Sommer Zucchini aus ihrem Garten schenken, oder meine Lehrerin Luise, die mir Französisch beigebracht hat und dass Liebe nicht nur zwischen Frau und Mann möglich ist. Wenn wir die persönlichen Verbindungen sehen, wird das Andere greifbar, menschlich – und Hass schwieriger.
«Schau mir in die Augen, hör mir zu und begegne mir mit Respekt, überall.»
Änn Vincent Dällenbach (they/them)

